Gleichheit, Zugang und Inklusion für gehörlose Menschen: Ein Menschenrechtstag im Zeichen der Gebärdensprache

Gleichheit, Zugang und Inklusion für gehörlose Menschen: Ein Menschenrechtstag im Zeichen der Gebärdensprache

Pressemitteilung des Österreichischen Gehörlosenbundes (ÖGLB) zum Tag der Menschenrechte

Am 10. Dezember 2024, dem internationalen Tag der Menschenrechte, widmet sich der Österreichische Gehörlosenbund (ÖGLB) der vollständigen Gleichstellung und Inklusion der Gehörlosen-Community in Österreich.

 

In Kooperation mit dem Österreichischen Institut für Menschenrechte lädt der ÖGLB anlässlich des Tages der Menschenrechte zu einer bedeutenden Veranstaltung an die Universität Salzburg, die die Rechte von gehörlosen Menschen, insbesondere in Bezug auf die Anerkennung und den Schutz der Gebärdensprache, thematisiert.

„Die Verwirklichung der Menschenrechte für alle, auch für gehörlose, schwerhörige und taubblinde Personen, ist nur mit umfassender Barrierefreiheit möglich.“, so Helene Jarmer, Präsidentin des ÖGLB. „Barrierefreiheit ist ein fundamentales Menschenrecht und die Voraussetzung für die gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe an der Gesellschaft. Leider erleben viele schwerhörige, gehörlose und taubblinde Personen in Österreich noch immer zahlreiche Barrieren. Und diese Barrieren schränken die Verwirklichung ihrer Menschenrechte stark ein.“, so Jarmer weiter.

Unter dem Titel „Gebärdensprache – Das Recht auf die eigene Sprache und seine Auswirkungen“ werden internationale und nationale Expert:innen einen wichtigen Dialog führen, um die Rechte der Gehörlosengemeinschaft zu stärken und ihre Bedürfnisse in der Gesellschaft sichtbarer zu machen. Der ÖGLB sieht diese Veranstaltung als eine bedeutende Gelegenheit, um auf die fortbestehenden Barrieren hinzuweisen, die gehörlose, schwerhörige und taubblinde Menschen tagtäglich erfahren, und auf die Notwendigkeit einer besseren politischen Unterstützung.

„Die Veranstaltung verbreitet und fördert den Menschenrechtsgedanken, wofür das Österreichische Institut steht“, wie Univ.-Prof. Dr. Reinhard Klaushofer, Leiter des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, betont.

 

Gehörlose Menschen werden durch fehlenden Zugang zu ihrer Sprache behindert

Die Gehörlosengemeinschaft in Österreich hat durch die fehlende Barrierefreiheit in der Kommunikation, der Bildung und der Teilhabe am öffentlichen Leben weiterhin mit massiven Herausforderungen zu kämpfen. Der ÖGLB betont dabei einen grundlegenden Aspekt: Gehörlose Menschen werden durch den fehlenden Zugang zu ihrer Sprache und den daraus resultierenden Barrieren behindert. Die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) ist zwar seit 2005 als eigenständige Sprache anerkannt, doch noch immer bestehen erhebliche Defizite in der praktischen Umsetzung der sprachlichen und kulturellen Rechte. Der ÖGLB verweist hier vor allem auf die schwierige Situation gehörloser Kinder im pädagogischen Bereich.

 

Menschenrechtliche Forderungen im Fokus

Der ÖGLB fordert die vollständige Umsetzung der Menschenrechte für gehörlose, schwerhörige und taubblinde Menschen, insbesondere in folgenden Bereichen:

  • Zugang zur Gebärdensprache in allen Bereichen des Lebens: Der ÖGLB fordert, dass Gebärdensprache in sämtlichen Lebensbereichen, von der Bildung bis zur Arbeit, als gleichwertige Kommunikationsform anerkannt und gefördert wird.
  • Anerkennung der Gehörlosengemeinschaft als sprachliche Minderheit: Der ÖGLB setzt sich dafür ein, dass Gehörlose nicht nur als Menschen mit Behinderung, sondern als Teil einer Sprachgemeinschaft anerkannt werden. Diese Anerkennung würde weitreichende Verbesserungen in der rechtlichen Absicherung und im sozialen Status der Gehörlosengemeinschaft mit sich bringen.
  • Vollständige Barrierefreiheit und Anti-Diskriminierungsgesetze: Der ÖGLB fordert verstärkte Maßnahmen zur Bekämpfung sprachlicher Diskriminierung und zur Förderung einer inklusiven Gesellschaft. Dies schließt den rechtlichen Schutz der Gebärdensprache und die Förderung der Barrierefreiheit in allen öffentlichen Bereichen ein.

 

Der ÖGLB fordert ein stärkeres politisches Engagement

Der ÖGLB betont, dass der Weg zu einer inklusiven Gesellschaft ein langfristiger Prozess ist, der die Zusammenarbeit von Politik, Gesellschaft und der Gehörlosengemeinschaft erfordert. „Wir brauchen ein starkes politisches Engagement, das die Rechte der Gehörlosengemeinschaft als Menschenrechte anerkennt und schützt. An jedem Tag, aber heute ganz besonders, wollen wir diese wichtigen Themen aufzeigen und für eine gerechtere und nachhaltig inklusive Zukunft kämpfen.“ so Helene Jarmer abschließend.

 

Veranstaltung in Salzburg: Internationale Expert:innen im Dialog

Die Veranstaltung wird sich mit zentralen Fragen der Gebärdensprachförderung und der Menschenrechte auseinandersetzen.

GEBÄRDENSPRACHE: Das Recht auf die eigene Sprache und seine Auswirkungen

WANN: Dienstag, 10.12.2024, 12:30 – 16:00 Uhr

WO: Universität Salzburg, Theologische Fakultät, Universitätsplatz 1, HS 101

Referent:innen:

  • Dr. Fernand de Varennes, ehemaliger UN-Sonderberichterstatter für Minderheiten
  • Alexandre Bloxs LLM., Politikmanager der Europäischen Union der Gehörlosen (EUD)
  • a Christine Steger, Bundesbehindertenanwältin
  • Dr. Christian Rathmann, Leiter der Abteilung „Deaf Studies und Gebärdensprachdolmetschen an der Humboldt-Universität zu Berlin

 

Für Rückfragen und weitere Informationen wenden Sie sich bitte an:

Mag.a Theresa Pell

Politik & Presse

Österreichischer Gehörlosenbund (ÖGLB)
E-Mail: politik@oeglb.at
Website: www.oeglb.at

Gebärdensprach-Avatare und das Prinzip „Nichts über uns ohne uns“

Gebärdensprach-Avatare und das Prinzip „Nichts über uns ohne uns“

Eine Stellungnahme des ÖGLB anlässlich der Einführung des Gebärdensprachavatars der Wiener Linien

 

Anlässlich der Einführung des Gebärdensprach-Avatars „Iris“ durch die Wiener Linien möchte der Österreichische Gehörlosenbund (ÖGLB) auf die grundlegenden Prinzipien und Standards hinweisen, die aus seiner Sicht bei der Entwicklung neuer Technologien zur Erreichung von Barrierefreiheit und Chancengleichheit für gehörlose Menschen berücksichtigt werden müssen.

 

Nichts über uns ohne uns: ÖGLB fordert Umsetzung von UN-BRK 4(3)

Der Österreichische Gehörlosenbund (ÖGLB) betont die zentrale Bedeutung von Artikel 4(3) der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Dieser verpflichtet die Vertragsstaaten, Menschen mit Behinderungen aktiv und über ihre repräsentativen Organisationen in alle Entscheidungsprozesse einzubinden, die sie betreffen. Dieser Grundsatz gilt insbesondere für die Entwicklung und Umsetzung neuer Technologien und Projekte wie Gebärdensprach-Avatare, die Barrierefreiheit und Inklusion fördern sollen.

Dabei hebt der ÖGLB das Prinzip „Deaf Lead“ hervor: Gehörlose Expert*innen sollten von Beginn an eine führende Rolle in der Entwicklung solcher Projekte übernehmen, um sicherzustellen, dass die Perspektiven und Bedürfnisse der Gehörlosengemeinschaft authentisch und umfassend berücksichtigt werden. Projekte, die diesen Ansatz ignorieren, riskieren nicht nur die Ablehnung durch die Betroffenen, sondern auch das Verfehlen ihrer Ziele.

„Nur gemeinsam entwickelte Lösungen können echte Barrierefreiheit schaffen und gesellschaftliche Barrieren nachhaltig abbauen.“, warnt Mag.a Helene Jarmer, Präsidentin des ÖGLB, „Technologien oder Maßnahmen, die über die Köpfe der Betroffenen hinweg geplant werden, sind zum Scheitern verurteilt“.

Der ÖGLB sieht den Ausschluss von Selbstvertretungsorganisationen bei Entscheidungsprozessen als ernstzunehmendes Problem, das strukturellen Ableismus fördert. „Nicht über uns ohne uns“ ist nicht nur ein Prinzip, sondern eine Verpflichtung, die eingehalten werden muss, um nachhaltige Inklusion und Gleichberechtigung zu erreichen.

 

Avatare: Unzureichende Qualität der Technologie mit groben sprachlichen Mängeln

Aktuelle Studien, darunter der Best Practice Leitfaden, der an der Universität Wien entwickelt wurde, zeigen, dass Gebärdensprach-Avatare in ihrer derzeitigen Form erhebliche technische und sprachliche Schwächen aufweisen. Bewegungen und Mimik wirken mechanisch, der Gebärdenfluss unnatürlich, und die sprachliche Präzision ist unzureichend. Dies führt dazu, dass die Avatare den hohen

Anforderungen an eine effektive und barrierefreie Kommunikation nicht gerecht werden.

Auch „Iris“, der im Dezember von den Wiener Linien vorgestellte Gebärdensprach-Avatar, hat sprachliche Defizite. „Nach ersten Beobachtungen stellen wir fest, dass sich die Inhalte von ÖGS-Video und die Textmeldungen manchmal nicht überschneiden (z.B. wird „verlängerte Wartezeiten“ gebärdet, aber der Text spricht von „unregelmäßigen Intervallen“) oder das Video ist gar unvollständig. Zusätzlich finden wir die sprachliche Umsetzung teilweise nicht sehr verständlich.“ bestätigt uns Dr. Katta Spiel, Assistenzprofessor*in zum Thema Critical Access in Embodied Computing an der TU Wien.

„Technologie darf nicht zur Illusion von Barrierefreiheit werden“, mahnt auch Mag.a Helene Jarmer. „Technologie muss den Anspruch haben, echte Barrierefreiheit zu schaffen. Andernfalls wird sie zur Täuschung und riskiert, betroffene Menschen weiter auszuschließen.“

 

Avatare sind keine Alternative zu menschlichen Dolmetscher*innen und Übersetzer*innen

Studien und Expert*innen sind sich einig: Menschliche Gebärdensprachdolmetscher*innen und Übersetzer*innen sind derzeit die einzige zuverlässige Möglichkeit, Informationen präzise, flexibel und interaktiv in Gebärdensprache bereitzustellen. Der Einsatz von Avataren darf keinesfalls dazu führen, dass menschliche Dolmetscher*innen und Übersetzer*innen verdrängt oder notwendige Dolmetsch- Übersetzungsdienste gekürzt werden.

 

Technische Innovationen erfordern sozialen Wandel, um wirksam zu sein

„Solange die zugangsbezogenen Herausforderungen, die taube Menschen im Alltag erleben – einschließlich sozialer und machtbezogener Aspekte – nicht kritisch hinterfragt werden, kann keine technische Innovation diese Probleme lösen.“

Mit diesen Worten verdeutlicht Robin Angelini, tauber PreDoc Researcher an der TU Wien, dass technologische Entwicklungen wie Gebärdensprach-Avatare nicht isoliert betrachtet werden dürfen. Die Barrieren, denen gehörlose Menschen begegnen, sind tief in gesellschaftlichen Strukturen und Machtverhältnissen verwurzelt. Mag.a Helene Jarmer bringt diese Problematik auf den Punkt und betont: „Falls diese grundlegenden Hindernisse bestehen bleiben, laufen technische Lösungen Gefahr, die bestehenden Ungleichheiten zu reproduzieren, anstatt sie zu überwinden. Das ist kein echter Fortschritt, sondern lediglich eine halbgare Lösung!“.

 

Der Österreichische Gehörlosenbund fordert daher (vgl. Robin Angelini (2024): Deaf Tech Worth Wanting – A Participatory Speculative Investigation):

· Deaf Research Settings: Deaf-Lead: Gehörlose Expert*innen leiten alle Projektphasen, um sicherzustellen, dass die Perspektive und Bedürfnisse der Gehörlosencommunity authentisch repräsentiert werden. Deaf Space: Die Forschungsumgebung wird so gestaltet, dass sie visuelle Kommunikation unterstützt und die Österreichische Gebärdensprache als zentrale Arbeitssprache fördert. Diverse Deaf communities: Die Vielfalt der gehörlosen Gemeinschaften wird einbezogen, indem unterschiedliche Hintergründe, Sprachen und kulturelle Erfahrungen berücksichtigt werden.

· Transparenz: Die Grenzen und Vorteile von Gebärdensprach-Avataren müssen auf unabhängigen Studien basieren und offen und ehrlich kommuniziert werden.

· Priorisierung menschlicher Dolmetscher*innen und Übersetzer*innen: Menschliche Dolmetsch- und Übersetzungsdienste müssen stets Vorrang haben, insbesondere in Situationen, die Präzision und Interaktivität erfordern.

· Förderung sozialen Wandels: Der ÖGLB fordert eine klare gesellschaftliche Verpflichtung zur Überwindung der strukturellen Barrieren und Machtverhältnisse, die gehörlose Menschen im Alltag erfahren.

 

Fazit

Technologie kann Barrieren abbauen, wenn sie richtig eingesetzt wird. Ohne eine tiefgehende Auseinandersetzung mit den sozialen und machtbezogenen Ursachen der Barrieren, die gehörlose Menschen erleben, bleiben die Lösungen jedoch oberflächlich und unzureichend. Grundsätzlich werden die Avatare nicht abgelehnt, aber kritisch betrachtet. Wenn sie adäquat eingesetzt werden, können sie eine sinnvolle Ergänzung zu menschlichen Gebärdensprach-Dolmetscher*innen und Übersetzer*innen darstellen. Keinesfalls sind sie ein Ersatz für echte Gebärdensprachdolmetscher*innen und Übersetzer*innen.

 

Weiterführende Informationen

· Deaf Tech Worth Wanting – A Participatory Speculative Investigation (Diplomarbeit TU Wien, Robin Angelini, BSc, 2024)

· Sign Language Machine Translation (Andy Way, Lorraine Leeson, Dimitar Shterionov, 2024)

· Website der Avatar-Best-Practice-Forschungsgruppe der Universität Wien (2021)

· Positionspapier des Verbands für Angewandte Linguistik (2019)

· Endbericht – Prototypentest SiMAX im Rahmen des Innovationsschecks (2019)

· UN – Behindertenrechtskonvention: Deutsche Übersetzung der Konvention und des Fakultativprotokolls

JEDER FALL ZÄHLT: Der Fall Bernadette S.

 

Jeden Monat präsentieren wir einen Fall von Diskriminierung gehörloser und schwerhöriger Menschen. Jetzt erzählen uns Menschen ihre Erfahrungen aus dem Pflege- und Gesundheitsbereich. Sie berichten von Hürden auf dem Weg zum Arzt oder ins Krankenhaus, diskriminierenden Regeln, die eine barrierefreie Gesundenuntersuchung erschweren oder behindern, und vom oft beschwerlichen Weg, um notwendige Dolmetsch- und Übersetzungsdienste in Anspruch nehmen zu können.

Hier lest ihr Bernadettes Geschichte.

Alle anderen Fälle könnt ihr im Archiv nachlesen.

Auf der Seite oeglb.at/diskriminierung findet man neben dem FALL DES MONATS auch wichtige Informationen übersichtlich in Kapitel gegliedert: Wir erklären, was unter Diskriminierung zu verstehen ist, geben einen groben Überblick über die internationale und die österreichische Rechtslage und im Kapitel RICHTIG REAGIEREN geben wir Tipps und Kontaktadressen. Der ÖGLB nutzt die Seite „Jeder Fall zählt!“ auch für seine politische Arbeit, wenn er mit Vertreter*innen aus Politik, Verwaltung und Institutionen für die Durchsetzung von Chancengleichheit für die Gehörlose Community kämpft.

Wir bedanken uns bei den Menschen, die Diskriminierung erfahren haben und darüber reden. Ohne ihre aktive Beteiligung wäre unsere Arbeit nicht möglich, aber gemeinsam können wir dem Ziel eines Selbstbestimmten Lebens ein Stück näherkommen.