In ihrer aktuellen Kolumne setzt sich Lydia Fenkart mit den Begriffen Gehörlosencommunity und Gebärdensprachcommunity auseinander. Was ist der Unterschied und warum sind sie so wichtig? Das erklärt sie im Video.
Liebe Leser:innen,
heute möchte ich mich dem Thema „Gehörlosencommunity & Gebärdensprachcommunity“ und deren Beziehung zueinander auseinandersetzen. Oft gibt es hier parallel Diskussionen und Entwicklungen, deshalb ist hier eine klare Abgrenzung wichtig. Meine Botschaft heute lautet: Ohne die Gehörlosencommunity gibt es keine Gebärdensprache und in weiterer Folge auch keine Gebärdensprachcommunity.
Doch was bedeutet eine Community oder auf Deutsch eine Gemeinschaft? Communities sind bestimmte Orte, an denen das Zusammentreffen von Gleichgesinnten mit gemeinsamen Interessen und Zielen passiert. In der Gehörlosencommunity gibt es keinen wirklichen Ort, wir sind auch keine Volksgruppe, sondern eine soziale Gruppe, die autochthon ist. Autochthon bedeutet, es besteht aus Menschen mit einer gebietsfremden Herkunft oder aus alteingesessenen Menschen.
Im neuen Buch „Einführung in die Grammatik der Österreichischen Gebärdensprache“ von Julia Krebs und mir, haben wir auch eine Definition der Gehörlosen- und Gebärdensprachgemeinschaft beschrieben, auf diese möchte ich mich beziehen. Im Zusammenhang mit tauben oder gehörlosen Menschen – hierbei sind beide Bezeichnungen zulässig – sind zwei Perspektiven wichtig. Zum einen, dass hier die soziokulturelle (und nicht die medizinische) Dimension gesehen wird, d.h. es herrscht eine Hörminderung vor, aber es ist nicht relevant, sondern wir sehen uns als sprachlich und kulturell als positiv an. Die Inklusive Perspektive ist aber auch wichtig, da wir als Gehörlosengemeinschaft nicht unterscheiden, welche Hörhilfen oder Hilfsmittel man hat, sondern wir sehen uns als heterogene Gruppe, die auch taubblinde Menschen, Deaf+ (oder Deaf Plus) und CODAs, die in der Gehörlosencommunity aufwachsen, miteinschließen.
Zum anderen ist es für die Gehörlosencommunity wichtig, dass es gemeinsame Interessen und Ziele gibt. Gleichgesinnte sowie Peers, durch die ein kollektives Zugehörigkeitsgefühl entsteht. Sowohl dadurch, dass es auch gemeinsame (leider negative) Erfahrungen gibt, aus dem Bildungssystem, mit Ableismus, Audismus, im Bezug auf Erziehung, der Berufswahl und viele Barrieren sowie Diskriminierungen aufgrund von Gehörlosigkeit und Gebärdensprache. Ebenfalls gibt es Traumaerfahrungen wie Sprachdeprivation, das Dinner Table Syndrom, Information Deprivation Trauma und vieles mehr. Gehörlose wachsen unter verschiedenen Bedingungen auf, mit und ohne Gebärdensprache. Wichtig ist auch, dass die Gehörlosencommunity nicht lokal bezogen, sondern international sowohl global ist und eine positive Haltung zur Gebärdensprache hegt. Deshalb ist es wichtig zu wissen, dass es ohne die Gehörlosencommunity keine Gebärdensprache und in weiterer Folge auch keine Gebärdensprachcommunity gibt.
Viele gehörlose Menschen haben erst spät Zugang zur Gehörlosencommunity, doch es ist mit der Gebärdensprache und einer positiven Grundhaltung nie zu spät. Die Gehörlosengemeinschaft muss aber auch durch Treffen, Diskussionen, gemeinsame Aktionen und Ziele national und international gepflegt werden. Wichtig ist, dass ein gemeinsames Ziel vorherrscht. In unserem Fall sind das die Menschenrechte, Sprachenrechte und Bildungsrechte.
Eine interessante Beobachtung möchte ich anmerken: Auch in der Gehörlosencommunity hat ein Zeitwandel stattgefunden. Früher waren die Vereine das Zentrum der Community, jetzt scheint sie mehr ortsungebunden, global und international zu sein. Internationale Treffen sind immer noch die Zentren der Gehörlosencommunity. Wichtig ist auch, dass die UNESCO 2013 die ÖGS als immaterielles Kulturerbe anerkannt hat, da es ein identitätsstiftendes Merkmal der Community ist. Als sprachlich-kulturelle Minderheit müssen wir immer noch um Anerkennung kämpfen. Aber ohne Gehörlosencommunity gibt es keine Gebärdensprache und keine Gebärdensprachcommunity.
Kommen wir zur Gebärdensprachcommunity. Wie kann man sich das vorstellen? Ich würde es mir wie einen Apfel vorstellen, im Kern drinnen ist die Gehörlosencommunity. Wir erinnern uns – ohne Gehörlosengemeinschaft gibt es keine Gebärdensprache. Zusätzlich gibt es außen herum Menschen, die die Gebärdensprache und das Gehörlossein als positiv sehen. Dolmetscher:innen, Pädagog:innen, Sozialarbeiter:innen, Forscher:innen, einfach Allys, die gemeinsam für die Werte eintreten. Diese haben auch fundiertes Wissen über die Gehörlosencommunity und ihre Geschichte sowie sorgen dafür gemeinsam, dass die Gebärdensprache gepflegt und gehegt wird. Sie entscheiden nicht alleine und machen keine Alleingänge, sondern beziehen die Gehörlosencommunity immer mit ein, sie treten mit ihr in Dialog und Aktion. In dieser Gruppe gibt auch eine Fluktuationsrate, es gibt einige die die Gutmütigkeit von gehörlosen Personen ausnutzen, kulturelle Aneignung betreiben sowie Geschäfte mit Gehörlosigkeit und Gebärdensprache machen. In dem Fall gibt es auch negative Aspekte.
Grundsätzlich ist die Gebärdensprachcommunity positive gesinnt und hat gemeinsam mit der Gehörlosencommunity gleiche Interessen, die sie verfolgen, nämlich dass die Gebärdensprache und dadurch auch die Community der gehörlosen Menschen bewahrt wird. Gemeinsam stehen wir alle für Menschenrechte und Inklusion ein und bleiben weiterhin im Austausch. Wichtig ist jedoch, dass es ohne den Kern der Gehörlosencommunity keine erweiterte Gebärdensprachcommunity gibt.
Eure Lydia
Dieser Artikel ist im Rahmen des GebärdenSache-Newsletters entstanden. Hier kannst du dich für unseren monatlichen Newsletter anmelden: