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Der stille und laute Mut von Frauen

 

Paulina Spelbrink ist Psychologin und arbeitet als Lehrende an der Medizinische Universität Wien, und ihr Lehrschwerpunkt liegt in der Aufklärung der österreichischen Gebärdensprache, Gehörlosenkultur und dem kultursensitiven Umgang mit gehörlosen Patient:innen. Für uns hat sie einen Gastbeitrag geschrieben, den Helene Jarmer in ÖGS gebärdet. 

Die Pandemie hat uns vor Augen geführt, wie wichtig sowohl die körperliche als auch die seelische Gesundheit ist, und warum diese Gleichwertigkeit für die seelische Gesundheit besonders wichtig ist, da sie sich gegenseitig bedingen. Rudolf Anschober appelliert im Vorwort des Buches Unterwegs in weitem Land von Dagmar Weidinger, dass es bei uns in Österreich im Bereich der psychischen Gesundheit oft an Ressourcen mangelt. Und ja, ich betone ausdrücklich, es braucht viel mehr Ressourcen und Zugangsmöglichkeiten für alle! Doch was bedeutet das für uns, für die Gebärdensprachgemeinschaft? Anlässlich des Internationalen Frauentages am 8. März möchte ich besonders auf gehörlose Frauen und Frauen, die mit Gebärdensprache als Muttersprache aufgewachsen sind (CODA – Children of Deaf Adults), hinweisen. Gehörlose Frauen sind eine doppelt marginalisierte Gruppe, die aufgrund von Kommunikationsbarrieren systematisch strukturelle und soziale Benachteiligung erfährt und als Frauen um volle Gleichberechtigung kämpfen muss, sei es beim Zugang zu Bildungs- und Berufswegen, bei Lohnunterschieden, bei der Unterrepräsentation in Führungspositionen oder beim Schutz vor Gewalt. Dies kann nicht nur als individuelles Problem von Frauen gesehen werden, sondern ist ein systemisches Problem gesellschaftlicher Machtverhältnisse. In dieser Hinsicht erfordert dies eine wirklich intensive Auseinandersetzung mit Begriffen wie Ableismus, Audismus, Feminismus und wie diese mit der fragwürdigen „Normalität“ der Mehrheitsgesellschaft einhergehen.

Mit diesem Verständnis des intersektionalen Ansatzes tragen wir dazu bei, zu verstehen, was es bedeutet, als gehörlose Frau und indirekt auch als hörende Frau, die mit Gebärdensprache aufgewachsen ist, im Mainstream zu leben und mit welchen Hürden sie zu kämpfen haben! Dazu fällt mir die Autorin Beatrice Frasl in ihrem Buch Patriarchale Belastungsstörung ein, die ich sehr treffend finde, dass wir an die Wurzeln dieser Ungleichheiten gehen müssen, um sie dann radikal ins Gleichgewicht zu bringen. Dann können auch die systemischen Bedingungen verändert und weitere Maßnahmen ergriffen werden. Systemveränderungen sind ein wichtiger Bestandteil der Prävention und Behandlung psychischer Erkrankungen. Wie wir bereits aus der Studie „Gewalterfahrungen gehörloser Frauen“ von Sabine Fries wissen, sind gehörlose Frauen mehrfach von Gewalt betroffen, und zwar auch innerhalb der Community, weil die Entwicklung spezieller Präventions- und Unterstützungsmaßnahmen nicht ausreichend ansetzt. Wenn Sabine Fries meint, dass eine frühzeitige Aufklärung von gehörlosen Jungen und heranwachsenden Männern von immenser Bedeutung für die Gewaltreduktion ist, die zu einem respektvollen Umgang mit Mädchen und Frauen führt und damit soziale Kompetenzen erworben werden können, so begrüße ich diesen Aspekt sehr. Ein wesentlicher Schwerpunkt ist auch, dass gehörlose Mädchen und Frauen und natürlich auch Jungen und Männer Zugang zu feministischer Bildung und Aufklärung brauchen, weil dieses Wissen zur Gewaltprävention und zur psychischen Gesundheit beiträgt.

Ebenso sollte in der Gesellschaft ein Bewusstsein dafür entwickelt werden, dass sich die Gehörlosen- und Gebärdensprachgemeinschaft als kulturelle Sprachminderheit versteht, deren österreichische Gebärdensprache seit 2005 in der österreichischen Bundesverfassung verankert ist und meiner Meinung nach eigentlich ein Teil der österreichischen Kultur ist. Mit dieser Perspektive können wir einen Wandel in der Gesellschaft schaffen, weg von Ignoranz und Unterdrückung, hin zu Wissen, Akzeptanz und Respekt! So können nachhaltige Ressourcen aktiviert und aufgebaut werden und eine gegenseitige Anerkennung und Unterstützung in Bewegung gesetzt werden.

Liebe gehörlose Frauen, liebe CODA-Frauen und liebe Allies (als Verbündete sind natürlich auch Männer bzw. diverse Gruppen und Personen, die die Gebärdensprache nicht beherrschen, mit eingeschlossen), lasst uns nicht unterkriegen und habt den MUT uns zu zeigen, wie wir mehr zu fortschrittlichen Rollenbildern beitragen und das patriarchale System aufbrechen können! Damit psychische Erkrankungen unabhängig vom Geschlecht behandelt werden können, müssen wir etwas dafür tun: darüber zu sprechen und immer wieder aufzuklären ist ein politischer und feministischer Akt! In diesem Sinne: Möge deine Gebärde und deine Stimme gesehen und gehört und deine Rechte respektiert werden – nicht nur am Weltfrauentag, sondern jeden Tag!

Dieser Artikel ist im Rahmen des GebärdenSache-Newsletters entstanden. Hier kannst du dich für unseren monatlichen Newsletter anmelden:

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