Gebärdensprach-Avatare und das Prinzip „Nichts über uns ohne uns“
Eine Stellungnahme des ÖGLB anlässlich der Einführung des Gebärdensprachavatars der Wiener Linien
Anlässlich der Einführung des Gebärdensprach-Avatars „Iris“ durch die Wiener Linien möchte der Österreichische Gehörlosenbund (ÖGLB) auf die grundlegenden Prinzipien und Standards hinweisen, die aus seiner Sicht bei der Entwicklung neuer Technologien zur Erreichung von Barrierefreiheit und Chancengleichheit für gehörlose Menschen berücksichtigt werden müssen.
Nichts über uns ohne uns: ÖGLB fordert Umsetzung von UN-BRK 4(3)
Der Österreichische Gehörlosenbund (ÖGLB) betont die zentrale Bedeutung von Artikel 4(3) der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Dieser verpflichtet die Vertragsstaaten, Menschen mit Behinderungen aktiv und über ihre repräsentativen Organisationen in alle Entscheidungsprozesse einzubinden, die sie betreffen. Dieser Grundsatz gilt insbesondere für die Entwicklung und Umsetzung neuer Technologien und Projekte wie Gebärdensprach-Avatare, die Barrierefreiheit und Inklusion fördern sollen.
Dabei hebt der ÖGLB das Prinzip „Deaf Lead“ hervor: Gehörlose Expert*innen sollten von Beginn an eine führende Rolle in der Entwicklung solcher Projekte übernehmen, um sicherzustellen, dass die Perspektiven und Bedürfnisse der Gehörlosengemeinschaft authentisch und umfassend berücksichtigt werden. Projekte, die diesen Ansatz ignorieren, riskieren nicht nur die Ablehnung durch die Betroffenen, sondern auch das Verfehlen ihrer Ziele.
„Nur gemeinsam entwickelte Lösungen können echte Barrierefreiheit schaffen und gesellschaftliche Barrieren nachhaltig abbauen.“, warnt Mag.a Helene Jarmer, Präsidentin des ÖGLB, „Technologien oder Maßnahmen, die über die Köpfe der Betroffenen hinweg geplant werden, sind zum Scheitern verurteilt“.
Der ÖGLB sieht den Ausschluss von Selbstvertretungsorganisationen bei Entscheidungsprozessen als ernstzunehmendes Problem, das strukturellen Ableismus fördert. „Nicht über uns ohne uns“ ist nicht nur ein Prinzip, sondern eine Verpflichtung, die eingehalten werden muss, um nachhaltige Inklusion und Gleichberechtigung zu erreichen.
Avatare: Unzureichende Qualität der Technologie mit groben sprachlichen Mängeln
Aktuelle Studien, darunter der Best Practice Leitfaden, der an der Universität Wien entwickelt wurde, zeigen, dass Gebärdensprach-Avatare in ihrer derzeitigen Form erhebliche technische und sprachliche Schwächen aufweisen. Bewegungen und Mimik wirken mechanisch, der Gebärdenfluss unnatürlich, und die sprachliche Präzision ist unzureichend. Dies führt dazu, dass die Avatare den hohen
Anforderungen an eine effektive und barrierefreie Kommunikation nicht gerecht werden.
Auch „Iris“, der im Dezember von den Wiener Linien vorgestellte Gebärdensprach-Avatar, hat sprachliche Defizite. „Nach ersten Beobachtungen stellen wir fest, dass sich die Inhalte von ÖGS-Video und die Textmeldungen manchmal nicht überschneiden (z.B. wird „verlängerte Wartezeiten“ gebärdet, aber der Text spricht von „unregelmäßigen Intervallen“) oder das Video ist gar unvollständig. Zusätzlich finden wir die sprachliche Umsetzung teilweise nicht sehr verständlich.“ bestätigt uns Dr. Katta Spiel, Assistenzprofessor*in zum Thema Critical Access in Embodied Computing an der TU Wien.
„Technologie darf nicht zur Illusion von Barrierefreiheit werden“, mahnt auch Mag.a Helene Jarmer. „Technologie muss den Anspruch haben, echte Barrierefreiheit zu schaffen. Andernfalls wird sie zur Täuschung und riskiert, betroffene Menschen weiter auszuschließen.“
Avatare sind keine Alternative zu menschlichen Dolmetscher*innen und Übersetzer*innen
Studien und Expert*innen sind sich einig: Menschliche Gebärdensprachdolmetscher*innen und Übersetzer*innen sind derzeit die einzige zuverlässige Möglichkeit, Informationen präzise, flexibel und interaktiv in Gebärdensprache bereitzustellen. Der Einsatz von Avataren darf keinesfalls dazu führen, dass menschliche Dolmetscher*innen und Übersetzer*innen verdrängt oder notwendige Dolmetsch- Übersetzungsdienste gekürzt werden.
Technische Innovationen erfordern sozialen Wandel, um wirksam zu sein
„Solange die zugangsbezogenen Herausforderungen, die taube Menschen im Alltag erleben – einschließlich sozialer und machtbezogener Aspekte – nicht kritisch hinterfragt werden, kann keine technische Innovation diese Probleme lösen.“
Mit diesen Worten verdeutlicht Robin Angelini, tauber PreDoc Researcher an der TU Wien, dass technologische Entwicklungen wie Gebärdensprach-Avatare nicht isoliert betrachtet werden dürfen. Die Barrieren, denen gehörlose Menschen begegnen, sind tief in gesellschaftlichen Strukturen und Machtverhältnissen verwurzelt. Mag.a Helene Jarmer bringt diese Problematik auf den Punkt und betont: „Falls diese grundlegenden Hindernisse bestehen bleiben, laufen technische Lösungen Gefahr, die bestehenden Ungleichheiten zu reproduzieren, anstatt sie zu überwinden. Das ist kein echter Fortschritt, sondern lediglich eine halbgare Lösung!“.
Der Österreichische Gehörlosenbund fordert daher (vgl. Robin Angelini (2024): Deaf Tech Worth Wanting – A Participatory Speculative Investigation):
· Deaf Research Settings: Deaf-Lead: Gehörlose Expert*innen leiten alle Projektphasen, um sicherzustellen, dass die Perspektive und Bedürfnisse der Gehörlosencommunity authentisch repräsentiert werden. Deaf Space: Die Forschungsumgebung wird so gestaltet, dass sie visuelle Kommunikation unterstützt und die Österreichische Gebärdensprache als zentrale Arbeitssprache fördert. Diverse Deaf communities: Die Vielfalt der gehörlosen Gemeinschaften wird einbezogen, indem unterschiedliche Hintergründe, Sprachen und kulturelle Erfahrungen berücksichtigt werden.
· Transparenz: Die Grenzen und Vorteile von Gebärdensprach-Avataren müssen auf unabhängigen Studien basieren und offen und ehrlich kommuniziert werden.
· Priorisierung menschlicher Dolmetscher*innen und Übersetzer*innen: Menschliche Dolmetsch- und Übersetzungsdienste müssen stets Vorrang haben, insbesondere in Situationen, die Präzision und Interaktivität erfordern.
· Förderung sozialen Wandels: Der ÖGLB fordert eine klare gesellschaftliche Verpflichtung zur Überwindung der strukturellen Barrieren und Machtverhältnisse, die gehörlose Menschen im Alltag erfahren.
Fazit
Technologie kann Barrieren abbauen, wenn sie richtig eingesetzt wird. Ohne eine tiefgehende Auseinandersetzung mit den sozialen und machtbezogenen Ursachen der Barrieren, die gehörlose Menschen erleben, bleiben die Lösungen jedoch oberflächlich und unzureichend. Grundsätzlich werden die Avatare nicht abgelehnt, aber kritisch betrachtet. Wenn sie adäquat eingesetzt werden, können sie eine sinnvolle Ergänzung zu menschlichen Gebärdensprach-Dolmetscher*innen und Übersetzer*innen darstellen. Keinesfalls sind sie ein Ersatz für echte Gebärdensprachdolmetscher*innen und Übersetzer*innen.
Weiterführende Informationen
· Deaf Tech Worth Wanting – A Participatory Speculative Investigation (Diplomarbeit TU Wien, Robin Angelini, BSc, 2024)
· Sign Language Machine Translation (Andy Way, Lorraine Leeson, Dimitar Shterionov, 2024)
· Website der Avatar-Best-Practice-Forschungsgruppe der Universität Wien (2021)
· Positionspapier des Verbands für Angewandte Linguistik (2019)
· Endbericht – Prototypentest SiMAX im Rahmen des Innovationsschecks (2019)
· UN – Behindertenrechtskonvention: Deutsche Übersetzung der Konvention und des Fakultativprotokolls